Darf es noch ein Nachschlag sein?

[singlepic id=13 w=400 h=300 float=right]Seit einigen Wochen tobt in der international vernetzen HEMA-Gemeinde mal wieder die (Online-)Debatte um den sogenannten „After-Blow“. Für alle, die nicht wissen, was das ist: Es handelt sich um eine Regel für HEMA-Turniere, bei der ein Kämpfer, direkt nachdem er getroffen wurde, noch einen (manchmal auch mehrere) „Rache-Hiebe“ (oder Stiche) machen darf, bevor der Kampf für beendet erklärt wird. Gelingt innerhalb eines gewissen Zeitfensters diese Revanche, wird der Gang als Doppeltreffer gewertet. Der Zweck dieser Regel ist es, den zuerst Treffenden dazu zu zwingen, einen sauberen Abzug zu fechten, ohne selber getroffen zu werden. Sie sinnlose, quasi suizidale „Treffergier“ der mit Adrenalin vollgepumpten Tunierfechter soll mit dieser Maßnahme reduziert werden.

Um ehrlich zu sein: Turniere sind mir eigentlich völlig egal. Die Lebensphase, in der ich Bestätigung durch institutionalisierten, öffentlichen Wettkampf gebraucht hätte, liegt hinter mir und eigentlich gehöre ich sowieso eher zu den Trainern, die weniger dem Versportlichungs- als mehr dem traditionellen Kampfkunst-Ansatz folgen. Warum ich die Diskussion um den Afterblow trotzdem als Aufhänger für einen Blogartikel nehme? Weil mir die psychologischen und praktischen Faktoren, die dieser Diskussion zugrunde liegen, aus dem eigenen Training vertraut sind. Ich bin der Meinung, dass die Fragen, die der Nachschlag bei Turnieren aufwirft, auch für Diejenigen, welche nicht turnieren, sondern lediglich im privateren Kreise „sparren“, relevant sind.  Ob man einen Kampf nämlich sofort unterbricht und sich um die Treffer streitet, oder ob man weitermacht und erst später diskutiert, ist nicht ganz unwichtig.

In vielen Trainingsgruppen ist es üblich, dass Schwertfechter einen Kampf sofort unterbrechen, wenn sie einen Treffer gelandet oder erhalten haben. Verstößt ein Kämpfer gegen diese Regel, gibt es meistens Streit: Immer wieder habe ich in den letzten 15 Jahren Diskussionen miterlebt (oder auch selbst führen müssen), bei denen einer der beiden Kämpfer nach einem Gefecht wutentbrannt behauptet, der Gang hätte nach dem eigenen Treffer beendet werden müssen und alles, was danach kam, wäre aus einem oder mehreren Gründen nicht statthaft gewesen. Oft sind solche Streitereien auch von unterschwelligen körperlichen Eskalationen begleitet. Auch aus Gesprächen mit Lehrern anderer Kampfkünste kenne ich derartige Vorkommnisse. Lasst mich die verschiedenen „Aufreger“, die beim Freikampf entstehen können, zusammentragen und kritisch beleuchten:

Die medizinische Perspektive

Es gibt unter Kämpfern eine Realismus-Fraktion, die sich beim bewaffneten Sparring gerne auf reale Kampfszenarien (oder das, was sie dafür hält) beruft. Begründet wird eine zeitige Kampfunterbrechung meist mit medizinischen Argumenten nach dem Motto „Du kannst nach einem solchen Handtreffer gar nicht weiterfechten denn die Hand wäre ab! Warum hörst du nicht auf!?“
Dieser Einstellung scheinen drei Behauptungen zugrunde zu liegen: Zum einen die, dass jeder eigene Treffer genau das ist, wofür man ihn hält: Halstreffer = Kopf ab, Brusttreffer = Lunge oder Herz punktiert usw. Zweitens glauben offensichtlich viele Fechter, dass ein getroffener Kämpfer sofort kampfunfähig ist. Zum Drittem beobachte ich die Behauptung, dass ein treffender Kämpfer den Kampf sofort gewonnen hat und ihm keine Gefahr mehr droht.

Zu all dem ist zu sagen, dass ein Fechter in der Regel weder Mediziner ist noch sich mit der physiologischen Reaktion eines menschlichen Körpers unter maximalen Kampf- und Fluchtbedingungen auskennt. Tatsächlich ist Youtube voller (teils polizeilich belegter) Filmdokumente mit Menschen, die mehrfach schwer mit großen Hieb- und Stichwaffen getroffen werden und trotzdem weiter handlungs- und kampffähig sind. So schrecklich diese Filme anzuschauen sind, so aufschlussreich sind sie für den mit Waffen fechtenden Adepten, der eine Diskussion um „Realismus“ anstößt. Denn zahlreich sind die Fälle, in denen multi-traumatisierte Menschen ihren Gegner noch töten, bevor sie selbst vor Ort oder später in der Klinik versterben. Die historische Berichte über Schwertkampf-Duelle sprechen eine ähnliche Sprache. Der menschliche Körper ist unter Stress zu überraschenden und auch erschreckenden Leistungen in der Lage und funktioniert nicht unbedingt so, wie sie das der Schwert-Nerd manchmal vorstellt. Hier zwei der erhellende Links zum Thema:

A summary of how people die (and don’t) in swordfights
The Dubious Quick Kill – Part I By Maestro Frank Lurz

Andererseits kennen Polizisten und andere Profis aus dem Sicherheitsgewerbe auch das Gegenteil: dass Opfer von Gewalt bereits nach einer Ohrfeige nicht mehr handlungsfähig sind. Ob und wie jemand eine Verletzung  wegsteckt, ist allzu häufig auch eine Frage der aktuellen Konstitution, des Spiegels von Stress- und Euphorisierungs-Hormonen oder einfach nur Zufall und Glück: Ich selbst wurde zweimal im Leben beim Fechten identisch schwer verletzt, allerdings nicht durch die Waffe, sondern beim Ringen. Es handelte sich beide Male um Kreuzbandrisse (einmal Links und einmal Rechts, im Abstand von vier Jahren), und kurioserweise auch noch verursacht durch den gleichen Beinhebel. Beim ersten Mal habe ich die Verletzung als lästig und behindernd empfunden, aber direkt hinterher noch ein Seminar vor achtzig Leuten gehalten. Beim zweiten Mal wurde mir schlecht vor Schmerz und ich musste alsbald in die Klinik gefahren werden. Zwei identische Verletzungen, aber ungleich empfunden und ungleich in der Auswirkung auf den Augenblick des Geschehens. Der übliche Einwand an dieser Stelle lautet: „Naja, bei einem schweren Kopftreffer kannst du trotzdem nicht weitermachen, egal wie hart du drauf bist, und Punkt!“.
Kann sein, muss es aber eben nicht. Aber zum einen gibt es sogar hierfür belegte Gegenbeispiele aus der Militär- und Kriminalgeschichte (bitte lest dazu die beiden oben verlinkten Artikel!), und zum anderen ist die Treffersituation in der Fechthalle fast immer längst nicht so eindeutig, wie das mancher Streithahn gerne hätte. Fakt ist: Niemand kann wirklich vorhersagen, was dieser oder jener Treffer im Übungsgefecht wirklich für einen realen Kampf bedeutet würde. Wir können nicht in einem Paralleluniversum nachschauen und wissen es einfach nicht. Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, das eine „Realismus-Diskussion“ nicht in die Fechthalle gehört, schon gar nicht, wenn sie bloß dazu dient, den eigenen „Sieg“ herbei zu diskuttieren oder einen renitenten Trainingspartner zu erziehen.

Mein Gegenvorschlag für alle „Schwertkampfmediziner“ da draußen lautet daher: Ein Kampfkünstler, der die Sache unbedingt traditionell und „realistisch“ sehen möchte, sollte stets so trainieren, als würde er sich auf den „Worst Case“ vorbereiten. Fechtet IMMER so, als hättet ihr euren Gegner nicht richtig getroffen, so als stünde dieser unter schmerzstillende Drogen und wäre auch nach eurem Treffer noch gefährlich für Euch. Wählt für euer „Mindgame“ (Also die fiktive Situation, auf die sich ein Kampfkünstler durch Sparring vorbereitet) die für euch selbst gefährlichste und ungünstigste Variante. Realistisch Kämpfen bedeutet für mich: So zu fechten, als wäre der Gegner grundsätzlich ernstzunehmen, egal wie oft und wo ich ihn treffe! Erst dann trainiert ihr für etwas, dass Ihr mit einer gewissen Berechtigung als Realität bezeichnen könnt.

Die didaktische und psychologische Perspektive

Wenn jemand beim Sparring eine Realismus-Diskussion –wie oben besprochen-  nicht gelten lässt, wird oft an die „Ehre“ appelliert. Wir HEMA- Leute sehen uns als Gentlemen (und gentle Ladies!) und  geben Einiges auf gute Manieren, Kameradschaft und geschliffene Umgangsformen. Dies ist natürlich wunderbar und ein weiterer Aspekt, der unser Hobby so besonders macht. Doch „gut“ ist manchmal das Gegenteil von „gut gemeint“ und so kann Höflichkeit auch zum Trainingshindernis werden. Vor allem dann, wenn sie vom Gegner eingefordert wird! In vielen Clubs ist es üblich, dass beim Trainingsfreikampf der Getroffene den Treffer anzeigt und danach zuerst salutiert, ich selbst bin einer derjenigen, die diese Sitte Ende der 90er Jahre in Deutschland mit eingeführt und durch Youtube-Clips und Seminare propagiert haben. Und so gilt es vielerorts inzwischen als „Ehrensache“, sich diesem Codex gemäß zu verhalten. Diese Entwicklung hat allerdings auch Schattenseiten, die wir nach all den Jahren nicht mehr ignorieren können:
Einerseits neigen viele Leute dazu, schnell wütend zu werden, wenn ein Gegner sein Getroffenwerden nicht angezeigt hat. Sie empfinden es als ignorante Herabwürdigung ihres eigenen Könnens oder gar ihrer Person, wenn ihr Treffer nicht sofort goutiert wird. Erklärt man ihnen, dass man gerne weiterfechten würde, weil man einen Treffer nicht gespürt hat oder technisch nicht anerkennt, werden solche Leute manchmal aggressiv und drohen damit, „härter“ zu werden, damit der Gegenüber die Treffer anerkennen muss. Oft verbunden mit der rhetorischen Frage, ob man das denn wirklich wolle… Ich nenne dieses Verhalten – in Anlehnung an die schnell eskalierenden Rivalitäten in schlagenden Studentenverbindungen- „Ehrpusselei“.
Die andere Seite der Medaille besteht darin, dass ein bestimmter Typ von Fechtern, die in einer solchen Kultur sparren, dazu erzogen werden, bei der kleinsten Waffenberührung das Gefecht zu unterbrechen und den Salut zu machen. Unsichere oder besonders höfliche Menschen kommen hier schnell unter die Räder. Gerade Frauen, die sich besonders bemühen, in der Männerdomäne Schwertkampf einen guten Eindruck zu hinterlassen, haben oft Angst, etwas falsch zu machen und salutieren lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Diese Angewohnheit nenne ich „vorrauseilenden Gehorsam“.

Beide Phänomene gib es übrigens auch beim Polsterprügeln in der Larper-Szene, und das sollte uns ein Hinweis darauf sein, wo hier der Hase im Pfeffer liegt: Wir haben es mit sozialen konnotierten Spielregeln zu tun, nicht unbedingt mit trainingsbedingten Notwendigkeiten! Und alles, was nicht unbedingt Notwendig ist, sollte man ab und zu mal hinterfragen. Ich gehe noch weiter und bin sogar der Meinung, dass ein allzu starres Festhalten an solchen Codizes dem Training schaden kann:

Der ehrpusselige Fechter, der auf den Abbruch des Kampfes beharrt, trainiert nicht um seine Technik zu verbessern, sondern er möchte „Sieger sein“ und sucht Bestätigung. Durch sein Verhalten nimmt er sich jedoch die Möglichkeit, den sauberen Abzug zu trainieren. Er übt nur den Ersttreffer und trainiert innerhalb seiner eigenen Komfortzone. Der vorrauseilend-gehorsame Fechter wiederum macht sich zu viele Gedanken über sein soziales Standing innerhalb seines Vereins. Er nimmt sich die Möglichkeit, ausdauernd zu trainieren und echten Kampfgeist und Durchhaltevermögen zu trainieren.

Beide nehmen sich selbst und gegenseitig das Übungsgefecht und die damit verbundenen Möglichkeiten. Sie beenden den Waffengang frühzeitig und berauben sich der Möglichkeit, eine taktische Situation bis zum letzten Ende durchzuspielen. Das vielfältige Spiel aus Bruch, Gegenbruch, Schwertnehmen, Ringen und Untenhalten, das sich aus einer unklaren Dominanz ergeben kann, bleibt ihnen verschlossen, weil sie die Frage der Dominanz lieber vorzeitig durch ein willkürliches Regelsystem geklärt haben. Es ist offensichtlich, dass Trainingseffekt der Lernfortschritt hier zugunsten persönlicher Befindlichkeiten den Kürzeren ziehen.

„Was würde Liechtenauer tun?“

Leider wissen wir sehr wenig über Freikampfregularien von Übungsgefechten (Ich rede nicht von Ordalen oder ritterlichen Turnieren!) im späten Mittelalter. Natürlich gibt es den reichen Schatz an Fechtschul-Regeln des 16. Jahrhunderts, doch sind diese zur Lösung des hier beschriebenen Problems nur bedingt zu gebrauchen. Zum einen, weil dort vieles, was wir im Freikampf trainieren wollen, verboten ist („Ort, Einlauffen und Knopf“), zum anderen aber im Rahmen dessen was erlaubt war, schwere Unfälle zumindest billigend in Kauf genommen wurden. Das „erste Blut“ oder die „rote Blume“ waren da noch harmlos, sind aber dennoch kein sinnvolles Maß für uns, anhand dessen wir einen Übungskampf im 21. Jahrhundert für beendet erklären wollen.
Meister Liechtenauer wiederum schreibt zu Beginn des 15. Jahrhunderts (oder besser: lässt schreiben) im Cod. 3227a, dass man ein Stück, welches man sich vorgenommen hat, kompromisslos zuende Fechten sollte, egal was der Gegner tut. Dieser gute Rat ist sicher zuerst einmal dem Vor geschuldet: Man soll sich vom Gegner nicht verunsichern und irre machen lassen. Darüber hinaus können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass Liechtenauer als Kind seiner Zeit wusste, wie gefährlich ein bewaffneter Mann sein kann und dass der Kampf wegen eines einzigen Treffers noch lange nicht zuende sein muss (Stichwort „Realismus“). Auch moderne Selbstverteidigungssysteme lassen es NIE auf dem Erstreffer beruhen, sondern es wird grundsätzlich mehr- oder vielfach nachgeschlagen, -getreten, -gehauen oder gestochen.

…und was heißt das jetzt für uns?

Natürlich bin ich nicht der Meinung, der einzig wahre Freikampf sei der, bei dem man so lange ignorant aufeinander eindrischt, bis einer keine Lust mehr hat. Dies wird anderweitig bereits ausprobiert und man kann dort beobachten, dass man zwar vielleicht ein sehenswert-brutales Reenactment ritterlichen Buhurts zustande bekommt, aber keinesfalls eine Simulation meisterlichen Bloßfechtens mit dem entsprechenden, von uns angestrebten „akademischen“ Anteil an Technik und vielfältiger Trainingsstruktur.

Aus der Perspektive der technischen Didaktik sind meiner Meinung nach möglichst offene Freikampfsysteme gegenüber denen zu bevorzugen, die die Möglichkeiten der Trainierenden einschränken (und hier rede ich von echtem Freikampf, nicht von freikampfähnlichen Spielen zur Übung einzelner Techniken). Dies gilt nicht nur für die Anzahl der erlaubten Techniken (Ringen und Bodenkampf gehören zum Waffentraining dazu!), sondern auch für die Frage, wann denn ein Kampf zu Ende oder gar „gewonnen“ ist. Hierbei ist es hilfreich, wenn die Fechter den Trainingskampf als das sehen, was er ist: Ein Kampf, der dem Training dient. Ziel eines Waffengangs sollte es sein, möglichst viele Szenarien zu erzeugen, die es den beiden Fechtern ermöglichen, ihr Können zu erproben. Ein früher Kampfabbruch stört hier nur!

Den Fluss aufrecht erhalten

Wie soll man mit Treffern umgehen? Für den Getroffenen sehe ich das Folgendermaßen: Sicherlich kann es Sinn machen, einen schönen und absolut klaren Treffer des Gegners (der ja meistens das Kind eines eigenen Fehler ist) anzuzeigen und anerkennend zu salutieren. Aber nur, wenn aufgrund eines großen Abstandes, besonders schlechten Timings oder sonstigem taktischen Pechs ein Gegentreffer im Sinne eines Nachschlags („Afterblow“) einfach nicht mehr möglich ist. In vielen Fällen wird der Treffer des Gegners aber entweder unklar, zu lasch (weil nur „angedrückt“ und nicht geschlagen oder geschnitten) oder strategisch ungünstig ausfallen, was dem getroffenen einen sofortigen Konter ermöglicht. In diesem Fall: Weitermachen! Dieser Konter sollte unbedingt versucht werden, um dem Angreifer die Möglichkeit zu geben, einen sinnvollen Abzug zu versuchen und darauf hin zu trainieren, wieder heil aus einer kritischen Mensur herauszukommen. Außerdem sollte sich ein getroffener Kämpfer nicht um die eigenen Trainingsmöglichkeiten bringen, indem er nach einem „Vielleicht-Treffer“ einen Kampf abbricht… wer weiß, wie schön der Gang noch hätte werden können!

Sich mit einem Treffer nicht zufrieden geben

Dem treffenden Fechter wiederum rate ich dazu, sich keine Gedanken um den eigenen Sieg und eventuelle devote Bekundungen des Besiegten zu machen. Stattdessen sollte er nach seinem Treffer gnadenlos aus dem Vor heraus weiterfechten und seine Kombination bis zum Ende durchexerzieren. In jeder realitätsnahen Kampfkunst werden Kombination und Mehrfachtreffer trainiert. Entsprechend sollte ein dominanter Kämpfer während eines Gangs versuchen, nachzuschlagen und die Situation so vollständig wie möglich klären. Die Wichtgkeit des mehrfachen Nachschlagens kann gar nicht oft genug betont werden, denn hier unterschieden sich letzendlich Sportfechter von Kampfkünstlern auf einer ganz prinzipiellen Basis: Der Sportfechter möchte einmal sauber treffen. Der Kampfkünstler möchte den Gegner kampfunfähig machen und lässt diesen nicht nach dem Ersttreffer zur Ruhe kommen. Natürlich wollen wir im Training keine wirkliche „Kampfunfähigkeit“ im Sinne von Verletzungen, aber das mehrfache Nachschlagen und/oder Fixierens, das können wir üben! Dieser Ansatz ist übrigens durchaus quellenkonform. Darüber hinaus sollte man immer und unter allen Umständen, egal ob man nun mehrfach oder auch gar nicht getroffen hat, den sauberen Abzug üben und die Situation möglichst ohne jeglichen Gegentreffer verlassen.

Den Abzug trainieren

Der Punkt des sauberen Abzugs ist hierbei ein ganz wichtiger: Wenn Waffenberührungen nicht mehr einer Regel konform angezeigt werden, besteht die Gefahr des „Zombietums“: Fechter rennen –wild um sich schlagend- suizidal in jeden Schlag hinein. Es versteht sich von selbst, dass das nicht Sinn eines Kampftrainings sein kann und Selbstschutz oberste Priorität hat. Ein solches Fechten wäre das andere Extrem zu den von mir hier behandelten Auswüchsen und sollte unter allen Umständen vermieden werden.

Um es noch einmal klar zu sagen:
Für mich ist ein Fechtgang dann vorbei, wenn einer von beiden Fechtern den Kampf über mehrere Sekunden klar dominiert und mindestens einmal, besser mehrmals hintereinander saubere Treffer landet und ihm dann ein glücklicher Abzug (also eine Entfernung aus der gegnerischen Reichweite) oder eine dauerhafte Fixierung durch ein Ringen gelingt.
Alles andere ist Gewurschtel. Hier sollte der Kampf (trotz eventuell passierter Treffer) weitergeführt werden, bis eine klare Entscheidung fällt.

(k)eine Frage der Ehre

Aus der Perspektive des Trainingspsychologen (und das sind wir Kampfkunsttrainer ja auch irgendwie alle ein bisschen) plädiere ich für technisches Sparring, bei dem nicht das Gewinnen – oder vielmehr: die Anerkennung des Verlierers und der Zuschauer- im Vordergrund steht, sondern die Arbeit am eigenen Können. Natürlich ist es niemandem egal, ob man in einem Trainingsgefecht dominiert oder dominiert wird. Fechten hat immer auch mit Selbstbehauptung und Macht, mit Unterlegenheit und Selbstzweifel zu tun, und dieser Zusammenhang ist automatisch mit entsprechenden Gefühlen verbunden. Doch sollte man sich vergegenwärtigen, dass diese Gefühle für einen Kampfkünstler störend sind und ihm vom eigentlichen Fokus weglocken. Bestenfalls sollte man ihnen den Rang unerwünschter Ablenkung einräumen. Ein Kampfkünstler muss sich selbst kritisch fragen, ob für ihn wirklich die eigenen Fähigkeiten, die Arbeit an der eigenen Kraft, Kondition, Reaktionsschnelle und die Entwicklung des eigenen Charakters im Vordergrund stehen, oder aber emotionale, vielleicht sogar kompensierende, Motivationen, die ihn jenseits seine rbewussten Selbstwahrnehmung antreiben.  Außerdem sollte die Weisheit gelten: Es ist schön, wenn einem Ehre erwiesen wird, aber es ist unehrenhaft, sie von anderen einzufordern.

Nach dem Kampf

Wenn man nun aber während eines Kampfes nicht mehr nach jedem Treffer anzeigt und stattdessen weitergefochten, bzw. nachgeschlagen wird, wird das Gefecht nicht völlig beliebig?
Nicht unbedingt, das hängt stark davon ab, wie kompetent der Trainer und die beteiligten Fechter mit einem eher offenen Regularium umgehen. Zum einen plädiere ich ja nicht –um das noch einmal deutlich zu betonen- für ein völliges Ignorieren eindeutiger Finishings, sondern lediglich für ein Weniger an „Trefferhuberei“ und für mehr „Flow“ im Sparring. Wenn beide Trainingspartner in einer eindeutigen Situation intuitiv den Sieger ausrufen und sich trennen wollen: Bitte, sollen sie.
Doch in Situationen, in denen mindestens einer der beiden Fechter nicht überzeugt ist, heißt es: Im Zweifelsfall für das Gefecht! Um Fehler zu besprechen, Stärken und Schwächen zu bestimmen oder (von mir aus) auch den dominanteren, stärkeren Kämpfer zu bestimmen, schlage ich ein kurzes Debriefing, ein Abschlussgespräch direkt nach dem Kampf vor. Hier können die beiden Fechter einige Sätze miteinander wechseln und darüber reflektieren, wie sie den Gang -und natürlich auch die Trefferdichte- wahrgenommen haben. Eigen- und Fremdwahrnehmungen können in Einklang miteinander gebracht, Ansätze hinterfragt und Ziele gesetzt werden.
Diese Procedere halte ich für deutlich fortschrittlicher, reifer und reflektierter als der konkurrenzorientierte Ansatz.

Und Reife ist das, was Liechtenauer sicherlich auch meint, wenn er sagt:

„Dor auf dich zoße
Alle ding haben llenge vnde moße
Vnd was du wilt treiben
By guter vornunft saltu bleiben“

Viel Spaß beim Fechten wünscht euch: Torsten Schneyer.